Tobias Gohlis, Die Zeit: Wie ein Schlag mit der flachen Hand...

Zum 60. Geburtstag von Jean-Patrick Manchette, der den europäischen Roman Noir radikalisierte

«Es war Winter, und es war Nacht. Ein eisiger Wind kam direkt aus der Arktis, verfing sich über der Irischen See, fegte über Liverpool, jagte über die Ebene von Cheshire (wo die Katzen fröstelnd die Ohren zurücklegten), und von dort kam er durch das offene Seitenfenster und peitschte dem in einem kleinen Bedford-Lieferwagen sitzenden Mann in die Augen. Der Mann blinzelte nicht.»
Fünfzig Jahre, bevor Jean-Patrick Manchette diese Zeilen schrieb, hatte Robert Musil seinen Mann ohne Eigenschaften so begonnen: «Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland liegenden Maximum zu...» Dass der Franzose den Österreicher gelesen hat, kann man sicher annehmen, Zitieren gehörte zum Kern seines Programms einer littérature référentielle.
Bei Musil stößt man nach vier Minuten Lektüre auf ein Indiz der Hoffnung. Ein Mann, der von einem Auto angefahren wurde, scheint noch zu leben. Bei Manchette jagt Terrier, der Mann, der nicht geblinzelt hat, einem Passanten «eine Kugel in den geöffneten Mund und eine andere in die Nasenwurzel.»

Guru des Néo-Polar

Manchette, ein Liebhaber von Jazz, Schach und Wortspielen, war stolz darauf, dass sein Name auch die Bedeutungen von «Schlagzeile» und «flacher Schlag mit der Hand» hatte, denn genau so schrieb er.
«Ein guter Roman noir ist ein gesellschaftskritischer Roman, der zwar Geschichten von Verbrechen erzählt, der aber zugleich versucht, die Gesellschaft ... an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit abzubilden», deklarierte er. «Von meinem Standpunkt aus war dies ein genau umrissener Zeitraum, nämlich der nach 68, und auch wenn meine Schmöker immer in Frankreich spielen, sind sie doch Bestandteil einer Periode, in der die Wiederauflage der Revolution von 68 weiterhin möglich zu sein scheint. Diese Möglichkeit erlischt gegen Ende der siebziger Jahre.» Und Manchettes Schreiben. Nach neun zwischen 1971 und 1981 veröffentlichten Kriminalromanen stellt der von der Literaturkritik als «Guru des Néo-Polar» verhimmelte Autor die Produktion ein. Bis zu seinem frühen Tod 1995 arbeitet er nur noch an Drehbüchern, Filmkritiken, Übersetzungen und Rezensionen. Fast alle Bücher Manchettes wurden verfilmt, oft mit Alain Delon. Auf Deutsch sind seine Romane Anfang der neunziger Jahre bei Bastei-Lübbe und jetzt, neu übersetzt, im Distel-Literatur-Verlag erschienen. Am 19. Dezember 2002 wäre er sechzig geworden.
Noch fehlen in der Neuedition seine – aus meiner Sicht – besten Bücher: L`Affaire N`Gustro (von dem Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone in vieler Hinsicht nur ein schwacher Abklatsch ist) und La Position du tireur couché. Sie werden 2003 herauskommen. Doch sind mit Westküstenblues und Tödliche Luftschlösser soeben zwei andere starke Romane erschienen.  

 

Aus die Träume

Westküstenblues ist die Geschichte von Georges Gerfaut, einem durchschnittlichen Leitenden Angestellten, der eines Nachts einem Verletzten auf der Autobahn hilft, einige Zeit später von zwei Killern angefallen wird, flieht, beinahe von einem Tramp umgebracht wird und im Massif Central bei einem Kräuterheiler landet. Der Roman endet, wie er begonnen hat. Gerfaut, ein durchschnittlicher Leitender Angestellter, rast mit 145 Sachen, angetrunken Jazz von der amerikanischen Westküste hörend, auf dem eben fertiggestellten Périphérique um Paris; zwischendurch hat er zwei Menschen umgebracht. Auch Tödliche Luftschlösser handelt von einer einzelnen Person, in deren friedvoll illusionäre Existenz die strukturelle Gewalt einbricht: Nach fünf Jahren in der Psychiatrie wird Julie von einem Millionär als Kindermädchen angeheuert. Doch statt dem verzogenen Erben das Leben beibringen und das Schloß des Millionärs besuchen zu können, wird der Sprößling entführt, und sie nimmt die Verfolgung auf. Am Ende sind alle Träume, auch das vom Schloß, zerstört.

 

Mit kalter Kamera

Die Welt, die Manchette beschreibt, kennt keinen Fortschritt. Wie bei Bret Easton Ellis sind seine Figuren Bestandteile des Warenkreislaufs, charakterisiert nur durch Äußerlichkeiten: durch ihre Kleidung, durch ihre links- oder rechtsradikalen Phrasen, durch die Waffentypen, die sie benutzen. Der Wut, die in den isolierten Individuen angestaut ist, entspricht nur eine Ausdrucksform, die der explosiven, exzessiven Gewalt. Bis zum Erbrechen (auch seiner Protagonisten) überzeichnet Manchette in obsessiver Detailgenauigkeit das Eindringen von Kugeln in zerplatzende Schädel, die Implosion durchstochener Lungen und die Blutfontänen aus geköpften Hälsen.

Obwohl er die Gewaltorgien der Italowestern zu übersteigern scheint, verfolgt Manchette ein gänzlich anderes ästhetisches Ziel. Die «behavioristische» Schreibweise seines Vorbilds Dashiell Hammet hat er weiterentwickelt. Wie auch im nouveau roman agiert bei Manchette der Erzähler als ein Kameraobjektiv, Verhalten und Seelenzustand der Protagonisten werden nicht kommentiert, der Leser soll sich selbst ein Bild machen. So heißt es in Westküstenblues kryptisch: «Das Innere von Georges Gerfaut ist düster und konfus, man kann darin undeutlich linkes Gedankengut erkennen.» Erst in der Leere, die solche Sätze schaffen, gewinnen seine Figuren Individualität, Lebensraum. Vorwegnahmen der Handlung, kreisförmige Erzählstrukturen, bewußte Ungenauigkeiten sind die literarischen Mittel, mit denen Manchette seine mindere in eine unterminierende Literatur (im Französischen beides: littérature mineure) verwandeln will. Um die Sprengkraft seiner Romane zu steigern, verstößt er systematisch gegen alle Erfordernisse des Genres, unterläuft Klischees, bricht Lesegewohnheiten. Bezeichnend für seinen provokativ-eklektischen Umgang mit Hochstil und Argot ist der wunderbare Originaltitel Ô dingos, ô châteaux! Darin nimmt Manchette eine Gedichtzeile von Rimbaud auf und banalisiert sie zu «O Bekloppte, O Schlösser!«,wie die wörtliche Übersetzung lauten müßte.
Auch wenn sich die politischen Frontstellungen seit 1970 verschoben haben, ist Manchettes Werk in seiner entschlossenen Ablehnung aller Art von Versöhnung mit jedweder herrschenden Klasse oder Ideologie und in seiner stilistischen Radikalität brisant wie am ersten Tag, auch dank der hervorragenden Übersetzer Christina Mansfeld und Stefan Linster. Wer Manchette nicht gelesen hat, weiß nicht, wie außerordentlich Krimi sein kann.

Tobias Gohlis in: DIE ZEIT

http://www.togohlis.de