Beate Ochsner: Kriminalroman in Frankreich nach 1968

Das Universum des Neo-Polar

Als Reaktion auf einen zermürbenden Giscardismus sowie die zunehmende Macht der Rechten entwickelte eine Gruppe von Schriftstellern Ende der 70er Jahre eine Form des linksradikalen, sozial engagierten (wenngleich die Autoren keinesfalls als im Sartre’schen Sinne ‚engagiert’ bezeichnet werden wollen!) und zumeist politisch unkorrekten französischen Krimis, den Jean-Patrick Manchette zur innovationsanzeigenden Abgrenzung gegebenüber dem, was zuvor im Bereich des Roman policier bzw. polar produziert wurde, auf den Namen néo-polar taufte. Eine Idee, die wohl letztlich größere marketingtechnische denn literarische Relevanz besitzt. Auch wenn Michel Lebrun, seines Zeichens selbst Krimiautor sowie Mitherausgeber der Krimi-Anthologie La Crème du Crime (1995), davon ausgeht, daß diese Bewegung mit der Wahl der Linken im Jahr 1981 keine „raison d’être“ mehr besitze, oder Manchette bedauert, daß der néopolar zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert und mithin keine subversive Antiliteratur mehr darstelle, so scheinen Todgesagte eben doch länger zu leben! Tatsächlich erfreut sich der néo-polar nicht nur des Interesses verschiedenster Autoren, auch die Begeisterung seiner Leserschaft erweist sich als ungebrochen, was sich hier in Deutschland u. a. in Form der Reihe „auf abwegen“ des Heilbronner DistelLiteraturVerlags zeigt, dem die Verpflichtung einer Reihe der renommiertesten Série-Noire-Autoren des Pariser Gallimard-Verlag gelang.

 

 

DAS UNIVERSUM DES NÉOPOLAR

Neben „Meister“ und Namensgeber Jean-Patrick Manchette zählt man im allgemeinen Piere Siniac, Jean Vautrin, Frédéric Fajardie, Alexandre Varoux, Michel Lebrun, Jean-Bernard Pouy, Didier Daeninckx, Pascal Raynal, Thierry Jonquet, Jean-François Vilar, Sébastien Japrisot, Serge Quadruppani sowie die „Krimi-Nanas“ Sylvie Granotier, Pascale Fonteneau, Chantal Pelletier, Dominique Manotti u. v. mehr zum Universum des néo-polar, das ich – um die Ursprünge und weiteren Entwicklungen aufzeigen zu können – zunächst in Bezug zu seinen Vorläufern, dem französichen roman à énigme – im anglo-amerikanischen Raum als „Whodunit?“-Romane bekannt – und dem roman noir amerikanischer und französischer Prägung setzen möchte. Subvarianten dieser freilich angesichts der kurzen Zeit groben Darstellung bilden u. a. der roman-problème à la Boileau-Narcejac oder die psychologisierende Variante Georges Simenons, auf die ich in diesem Kontext jedoch nur am Rande eingehen kann.1

 

DER „ROMAN À ÉNIGME“ ODER RÄTSELROMAN

Der klassische Kriminalroman, auch als roman à énigme oder Rätselroman bezeichnet, spielt traditionellerweise in einem abgeschlossenen geographischen Raum und rollt in zumeist objektiv-berichtender Erzählweise, die sich langatmige Beschreibungen ebenso spart wie psychologische Analysen, die Hintergründe eines oder mehrerer Morde retrospektiv auf. Vom Leser begleitet und für diesen nachvollziehbar, arbeitet die Detektivfigur deduktionistisch, auf der Basis von Indizien, Beobachtungen und kriminalistischen Verfahren. Er kommt zumeist von außen, übernimmt den Fall freiwillig, ist also weitestgehend unbeteiligt, unangreifbar und unverletzlich und präsentiert zum Ende eine zwar unerwartete, dennoch völlig logische Lösung. Verkörpert wird diese Figur z. B. durch den extravaganten Sherlock Holmes, die kriminalistisch versierten Rentner wie Gaboriaus Père Tabaret oder Agatha Christies geschäftige Miss Marple sowie von Leroux’ eifrigen Journalisten Joesph Josephin alias Rouletabille. Im Gegensatz dazu wird der sich nach dem zweiten Weltkrieg mit Referenz auf den amerikanischen hard-boiled-Krimi à la Chandler, Hammet oder Chase sich entwickelnden roman noir zumeist von einem die Geschichte selbst miterlebenden Ich-Erzähler präsentiert. Die Frage lautet nun nicht mehr „Was ist passiert?“, sondern vielmehr „Was wird passieren?“ und so verlagern sich die Schwerpunkte von der Rätselhaftigkeit und Neugierde auf Action und Spannung. An die Stelle des logisch deduzierenden Ordnungsstifters tritt der zynische Privatdetektiv amerikanischer Prägung w. z. B. Philippe Marlowe oder, à la française, Léo Malets Nestor Burma, die den Fall gegen Bezahlung – zuweilen recht widerwillig – übernehmen, durchaus emotional reagieren, manches Mal selbst in den Fall involviert sind und, in teilweise gewaltsamer Manier, mit ihren eigenwilligen Untersuchungsmethoden häufig die Grenze des Legalen überschreiten.

 

DER NÉO-POLAR

Die Welt des néo-polar ist ebenso komplex wie seine Autoren heterogen: Wenn auch die Nähe zu den amerikanischen hard-boiled-Autoren bzw. zum französichen roman noir-Spezialisten Léo Malet unbestreitbar ist, so geht es doch in erster Linie um die Ausprägung eigener Merkmale und Besonderheiten. Modelle und Regelwerke, w. z. B. die von Van Dine 1928 veröffentlichten Twenty rules for writing detective stories (1928) haben ausgedient bzw. werden subvertiert: Die Geschichten ändern sich in gleichem Maße wie die écriture, Arbeitslose, Umweltschützer und Clochards avancieren zu Protagonisten in einer H.L.M.-geprägten Welt, Terroristen werden zu Helden, das Centre de recherche scientifique zum Tatort und die detailliert aufgerollte Vergangenheit des Generalsekretärs einer großen Partei zum Fall. Indifferent gegenüber Vorbildern und Kategorien, vermischt der néo-polar – und dies zunehmend in seinen neueren Ausprägungen – den psychologischen mit dem Spionageroman, läßt er die politische mit der sozialen Chronik in eins fallen.

In dem Maße, wie das Verbrechen als solches bzw. die für den roman à énigme wesentlich deduktive Methode sowie, paradigmatisch für das 19. Jahrhundert, die Indizien- und Spurensuche in den Hintergrund geraten und nicht mehr als Auslöser für die Geschichte fungieren, fokussieren einige Autoren des néo-polar die Literarizität, das Erzählen selbst: Als Spezialisten in dieser Hinsicht gelten Sébastien Japrisot oder auch Jean-Bernard Pouy, der gleichermaßen selbstverständlich eine telepathisch begabte Kuh mit erzählerischen Aufgaben betreut, wie er einen Buchhändler auf die Suche nach fünf Literaturleichen schickt. Derselbe Autor gilt auch als Erfinder und Herausgeber der Erzählungen um Gabriel Lecouvreur, genannt Le Poulpe, ein gemeinschaftliches Projekt, an dem sich bereits zahlreiche französische Autoren beteiligt haben. Mittlerweile sind über 200 der literarisch sicher weniger anspruchsvollen, dafür politisch 100% korrekten Poulpe-Romane um den linken Antihelden, der in der französischen Provinz mit der Aufklärung geheimnisvoller Fälle praktischen Antifaschismus betreibt, erschienen.

Die Mehrzahl der néo-polar aber konzentriert sich auf die kritische Darstellung aktueller politischer Um- bzw. Mißstände. Gemeinsam ist ihnen die endgültige Ablösung des dem roman à énigme zugrundeliegenden manichäistischen Systems von gut und böse durch eine vornehmlich von psychischer und physischer Gewalt geprägte Welt, in der einsame, sexuell frustrierte, zuweilen brutal agierende, meist hoffnungslos desillusionierte Antihelden, wie z. B. Chantal Pelletiers Maurice Laisse immer schon zu spät kommen – „Il arrivait toujours après coup, pour saisir le reflet d’un assassin dans les yeux d’un cadavre.“2 – oder, wie die häufig mit der eigenen Vergangenheitsbewältigung überforderten Figuren Didier Daeninckx, die gleichwohl als realistische Zeitzeugen fungieren, denn – so Marko Martin in einem Interview mit dem Autor, Überlebenskampf ist immer auch ein Kampf um die Erinnerung und gegen das Vergessen.3

 

DER DETEKTIV ... VOM HELD ZUM LOOSER

Es mag sein, daß, wie Patrick Raynal konstatiert, Frauen ne tuent pas de la même façon et pour les mêmes raisons; gleichwohl erscheint mir die Frage, ob es nun einen Frauenkrimi gibt bzw. ob sich eine solch spezifisch weibliche Krimiproduktion in Bezug auf bestimmte Themen oder stilistische Besonderheiten auszeichnet, angesichts der mittlerweile indiskutablen Erfolge französischer Krimiautorinnen nur wenig relevant. Viel wichtiger hingegen die Vielfalt der Texte als solche, wie z. B. die Romane Chantal Pelletiers, Eros et Thalasso, Le Chant du bouc und More is less, die den leicht trottligen und zutiefst melancholichen Kriminalkommissar Maurice Laisse in Szene setzen: An ihm läßt sich z. B. der Wandel der traditionell gattungstragenden Detektivrolle eindrucksvoll skizzieren: Vom freiwillig agierenden, unbeteiligten Ordnungsstifter bis zu Léo Malets, wenn auch nicht ganz unfreiwillig, so doch professionell agierenden, zynischen Privatdetektiv amerikanischen Zuschnitts Nestor Burma, dessen Untersuchungsmethoden nicht nur weit vom Ideal Rouletabilles – „Il s’agit de prendre la raison par le bon bout“ entfernt sind, sondern darüber hinaus juristisch mehrfach grenzwertig erscheinen; von Simenons literarisch und kriminalistisch unvergleichlich erfolgreichen Inspecteur Maigret, der eine letzte Reminiszenz an den (allerdings bereits von Berufs wegen) gerechten und tadellosen Ordnungsstifter darstellt – bezeichnend ist die Darstellung seines Privatlebens, in dem er nicht wie in amerikanisch vorgebildeter Privatdetektivmanier ständig wechselnde Frauengeschichten unterhält, sondern in alltäglichster Weise seinem Eheleben nachgeht –, bis zu Daeninckx’ paradigmatisch und notorisch pessimistischem Inspecteur Cadin, der von Fall zu Fall und von Niederlage zu Niederlage eilt, bis er, aus den Diensten der Polizei entlassen, vollständig desillusioniert zum Privatdetektiv umsattelt und sich letztlich, fast möchte man sagen konsequenterweise, umbringt, zeigt sich eine breite Palette verschiedener Möglichkeiten und Aktualisierungen, denen Pelletiers Figur erfreulicherweise nicht nur nachgebildet ist, sondern diese neuerlich variiert: Weniger politisch und defätistisch, dafür mit viel Witz versehen, entwickelt die Autorin eine detaillierte Figurencharaktierisierung des stets leicht verstörten und sexuell frustrierten Kommissar Maurice Laice. Beispielhaft ist der Roman Le chant du bouc, der die mannigfaltigen Probleme und Komplexe des Kommissars, so z. B. seine notorischen Schwierigkeiten mit dem weiblichen Geschlecht, seine ihn schmerzhaft an den schlechten körperlichen Gesamtzustand erinnernden Krampfadern, seine melancholische Grundstimmung, seine familiär bedingten Alpträume etc. Die monomanische Chefin Aline Lefèvre, Anhängerin der simplen Philosophie „santé par l’orgasme“, zieht nicht nur in teilweise männerverachtender Manier Laisses nicht vorhandenes Sexualleben ins Lächerliche, sondern amüsiert sich, politisch ebenso unkorrekt, über seine Farbenblindheit und verballhornt darüber hinaus Laisses Namen, indem sie den ihr untergeordneten Kommissar beständig mit „Plussémoins“ anspricht. Und die Quintessenz des auf der Folie der griechischen Tragödie, des titelgebenden Bocksgesanges, konzipierten Romans ist eine ebenso tragische: „La tragédie engendr[e] la tragédie, les victimes d’autres victimes. La folie des hommes avait sans cessse besoin d’un bouc émissaire.“4

 

 

FAKTEN ...

Betrachtet Sylvie Granotier den polar auch als wesentlich realistisch, so verzichtet sie doch nie auf literarische Komplexität wie kunstvoll ineinanderverflochtene zeitliche Dimensionen oder geschickt inszenierte Erzählerwechsel und -kommentare. Im Gegensatz zum verläßlichen Erzähler des klassischen Krimis – so z. B. Sinclair bei Rouletabille oder Watson bei Holmes – spielt Granotier z. B. in Dodo, ähnlich wie Japrisot in Piège pour Cendrillon (1967) mit einer bzw. mehreren Ich-Erzählerinnen, deren Identität und damit Zuverlässigkeit durch zeitliche Verschiebungen bzw. Erinnerungslücken fraglich wird.

‚Realistischer’ als Granotier arbeitet Dominique Manotti in ihrem Bemühen, die – so ein Journalist – Rückseite „de l’histoire contemporaine avec les armes du roman noir“ zu zeichnen. Diese These lenkt das Augenmerk auf die dem néo-polar zentrale Problematik realistischen oder historiographischen Schreibens, eine Entscheidung zwischen Literarizität und politischem Engagement, der sich die meisten Autoren auf die eine oder andere Weise stellen. Unter dem Eindruck ihres Vorbildes James Ellroy, der mit seinem Roman Die schwarze Dahlie einen der rätselhaftesten und brutalsten Kriminalfälle der USA thematisierte, konzipiert Manotti äußerst spannende, semi-dokumentarische Politkrimis w. z. B. Nos fantastiques années fric (2001). In einer mittels szenischer Erinnerungsflashs verschiedener Protagonisten sowie aufgrund zahlreicher Zeitungsausschnitte und realer Namen sehr lebendig gestalteten Erzählung verdichtet die Autorin stellenweise protokollarisch die kurz vor der Präsidentschaftswahl 1986 in Paris sich ereignende Geschichte des Mitterandvertrauten und Begründer der Cellule antiterroriste des Elysée-Palastes François Bornand, dem eine trotz bestehenden Embargos in den Iran geschickte Waffenlieferung zum letztlich tödlichen Verhängnis wird. Nur ein kurzer Ausschnitt, der die quasi kinematographische Schreibweise dokumentiert:

„La porte s’ouvre. Bornand se retourne. Juste le temps de se dire: un très élégant tailleur-pantalon, bleu marine strié de blanc, sans doute Saint-Laurent, ça va bien aux femmes même boulottes. Elle tient un fusil de chasse à la hanche, calibre 12, canons superposés, cartouches de chevrotines attachées par une fil de tungstène, elle tire deux fois, coup sur coup, au niveau de la poitrine, le coeur éclaté, l’homme est presque coupé en deux, la mort est instantanée.“ (236)

In einer von Beginn an korrupten, rein auf individuelle Gewinnmaximierung und ohne (Er-)Lösungshoffnung konzipierten Welt ist freilich mit einem – wenn auch aus mancher Sicht – gerechtfertigt erscheinenden Mord nichts ‚zurechtgerückt’, keine Ordnung (wieder-)hergestellt: Der Tod Bornands wird als Jagdunfall deklariert, und die „realpolitik“ geht weiter ... wie im ‚wahren Leben’, so möchte man sagen. Damit scheint der Roman eine von Siegfried Kracauer in seinem 1925 publizierten Essay Der Detektiv-Roman aufgestellte Forderung nach kritischer Auseinandersetzung mit der Realität der Gesellschaft und dem Verbrechen einzulösen: Kracauer zufolge glorifiziere der Detektivroman – gemeint ist der Rätselroman – die Ratio als konstitutives Prinzip und erschaffe so eine gottähnliche Detektivfigur, die als hochstilisierter Alleskönner in das Weltgeschehen eingreife, durch Scheidung der Verdächtigen von den Unverdächtigen, der Schuldigen von den Unschuldigen die Gerechtigkeit wieder oder überhaupt erst herstelle. Dieser gänzlich entwirklichten, basiskausalen Faktenwelt begegnet Elfriede Müller5 zufolge der roman noir – und ich möchte präzisieren, der néo-polar – dadurch, daß die Detektivfigur zwar im besten Fall das Verbrechen aufdeckt, doch dadurch erst deutlich macht, daß die Ordnung der Dinge ein Skandal ist und, einer Tragödie gleich, das Verbrechen zwangsläufig immer wieder neu produzieren muss.

Eindrucksvolle Beispiele dieser These liefert der 1949 geborene Didier Daeninckx, der 1977 seinen ersten Roman Mort au premier tour verfaßt. Ohne in die Desillusion oder den Zynismus eines Manchette zu verfallen, greift Daeninckx – z. T. durchaus mit erhobenem moralischen Zeigefinger – aktuelle, soziopolitische Themen auf, wobei es ihm – nach eigener Aussage – weniger um die moralischen Aspekte, denn um ein Höchstmaß an Genauigkeit und dies vor allem im Umgang mit der kollektiven wie auch privaten Vergangenheit geht: „Mon objectif, c’est de composer des romans qui ne tirent pas à blanc, mais à mots réels.“6

Wie Manotti oder Jonquet vermischt Daeninckx’ Fakten und Fiktionen – ich erinnere lediglich an die in Meurtres pour mémoire (1984, programmatischer Titel) zitierte Papon-Affäre, betreibt er eine Art metahistory wie sie Hayden White in seinem gleichnamigen, nicht nur unter Geschichtswissenschaftlern für Aufsehen sorgendes Buch aus dem Jahr 1973 beschreibt. Daeninckx’ geschicktes „mix-matching of fiction and faction“ führt zu einer Überlagerung von Geschichte und Literatur, die die Geschichte nicht nur als Vorwand bzw. Hintergrund für eine Erzählung begreift, sondern ihre Manipulation als Waffe des Verbrechens aufzeigt. Häufig handelt es sich dabei um – und so begreift sich das Versagen und die Frustration Cadins aber auch anderer Detektive – perfekte Verbrechen, weil diejenigen, die die sie verüben, die Werkzeuge der Macht und – fast gleichbedeutend – der Kommunikation besitzen. So deckt der néo-polar in Daeninckx’scher Ausprägung nicht einfach nur auf, die Welt ist danach mitnichten in Ordnung, die Machtverteilung noch die gleiche, der Detektiv geschlagen, gleichwohl, es spricht der Schriftsteller, der den Leser zum Zeugen der Geschichte macht.

Auch Jean-François Vilar zeigt sich von der Geschichte faszinziert. In Bastille Tango beschreibt er das Leben des Pariser Fotografen Victor Blainvilles, der mit seinen Katzen in einem zwischen Museum, Wunder- oder Rumpelkammer anzusiedelnden Appartment lebt und arbeitet. In nahezu Baudelaire’scher Manier flaniert Victor durch seine Paris, um – Spiegel und moderner Beobachter der Masse – fotografisch Begegnungen, Orte und Menschen, kurz: die stets von Zerstörung bedrohte Geschichte festzuhalten. Auf den Wegen erscheinen ihm verschiedene „spectres de l’histoire“, als da wären das in Les exagérés evozierte Paris der Révolution, das Paris der Surrealisten und politischen Kämpfer zu Beginn der 30er Jahre in Nous cheminons entourés de fantômes aux fronts troués (1993) oder das Paris der latino-amerikanischen Flüchtlinge in Bastille Tango. Blainvilles Projekt der Kompilation seiner gesammelten Dokumente – der Rekonstruktion von Geschichte und Geschichten – kann gleichsam als literarisches Programm Vilars begriffen werden:

„Coupant, taillant, sélectionnant dans le vif des bandes magnétiques et des notes, choisissant des photos, je reconstituai une histoire en étant bien persudadé de l’inventer. De la même manière que j’avais bricolé ls pellicules de Julio. Droit souverain du spectateur qui décide le vrai. peut-être étais-je faussaire, je ne doutais pas de ma légitimité.“ (289)

 

UND FIKTIONEN ...

Was bei Manchette mit kalter Brutalität und bei Daeninckx mit sozialkritischem Impetus daherkommt, relativiert JEAN-BERNARD POUY durch literarische Ironie, die z. T. bissig, wie in H4 Blues, ein sprachlich und stilistisch Abgesang auf die 68-er Generation, oder, wie in Larchmütz 5632, durchaus liebevoll ausfallen kann: Die Idee, ein Teil der erzählerischen Aufgabe der telepathisch begabten anglo-normannischen mit der Nummer 5632 zu überantworten, führt zu einer sympathischen und gleichsam märchenhaften Relativierung der ideologischen Verbohrtheit nicht nur ihrer beiden leicht trottelig gezeichneten Besitzer Benno und Adrien, zwei ‚Schläfer’, die seit nunmehr 25 in dem verschlafenenen bretonischen Nest Kerguennic auf ihre Reaktivierung warten. Plötztlich ist es soweit:

„Ils discutèrent ainsi longtemps, à demi-mot. Chacun prenant bien soin de ne pas décrire le tableau: deux mecx, dans une voiture, en route vers une destination en gros inconnue, deux types planqués depuis plus de vingt ans dans le vert de champs immémoriaux, peut-être á un kilomètre à peine de la bulle où est enfermé Merlin, et soudainement ‚récactivé’ par une lettre, une simple photocopie d’un vieux roman de Paul Féval. Un rêve, un mauvais rêve. Et le tableau, surréaliste. Ou pire, naïf.“7

Während Pouy seine beiden Protagonisten in mehrfachem Sinne des Wortes aufwachen läßt bzw. erweckt, schickt er Pierre, seinen Protagonisten aus 1280 âmes, auf eine Reise durch Amerika: Beauftragt von einem Kunden seiner Buchhandlung, „un grand et gros type, presque chauve, habillé country, tout sourire“, macht sich Pierre auf die Suche nach den fünf Seelen, die im Kontext der Übersetzung des amerikanischen Krimis Pop 1280 in die französische Version mit dem Titel 1275 âmes verschwunden sind. Dieser herbe und gleichsam nicht geklärte Verlust läßt die bibliophilen Protagonisten nicht mehr los: „Ca me taraude. Ca m’empêche de considérer cette littérature, la noire, comme parfaite, un truc comme ça. J’aimerais que vous me les retrouviez, ces passés à l’as, pour raison signifiante. Je vous garderais une éternelle reconnaissance.“

  

 

1 Auf die Arbeiten Manchettes wird in diesem Vortrag aufgrund der Tatsache, daß er bereits im Mittelpunkt des Vortrages von Herrn Gohlis steht, nicht weiter eingegangen.
2 Le chant du bouc, Gallimard 2000, S. 21.
3 „Über Detektive und Anarchisten, braune Kommunisten und eitle Literaten“, Marko Martin im Gespräch mit d. Daeninckx, online unter: www.oeko-net.de/kommune/kommune12-96/KMARTIN.htm, Zugriff am 10.09.04).
4 Le chant du bouc, S. 236-37.
5 So z. B. in dem gemeinsam mit Alexander Ruoff verfaßten Artikel „Le Poulpe. Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen Roman Noir.“ Aus: Jungle World 3 (2001), 10. Januar.
6 „Über Detektive und Anarchisten, braune Kommunisten und eitle Literaten“, op. cit.
7 Pouy: Larchmütz 5632, Gallimard 1999, S. 28.