Zum 65. Geburtstag von Manchette

Der Broterwerb des Jean-Patrick Manchette. Von Roland Oswald.

 

 

Mit einem Schlag auf Seite Eins

Der Broterwerb des Schriftstellers Jean-Patrick Manchette

von Roland Oßwald

 

Geschriebenes unterliegt, wie alle anderen Werte in dieser Welt, den gängigen Marktgepflogenheiten. Der Autor ist Unternehmer. Sein Produkt sind Worte und Sätze, die Geschichten erzählen. Das ist die Ware. Wie gut die Ware läuft, bestimmt der Kunde. Geht man davon aus, dass heutzutage schon alles zu Papier gebracht worden ist, jede Idee von vorne und von hinten her erzählt wurde, selbst jede Provokation bereits zur Langeweile führt, der Mensch gewissermaßen zum Spielball der gebotenen Spektakel wird, ob in der Presse, im Fernsehen oder sonst wo, hat es die Ware Wort schwer. Und dennoch verkauft sie sich. Immer wieder. Jemand, der das wissen wollte, ist Jean-Patrick Manchette.
Am 19. Dezember 2007 wäre der Autor 65 Jahre alt geworden. Der Distel Literatur Verlag hat in diesem Jahr »Laßt die Kadaver bräunen!« (Manchettes Durchbruch in der Literaturindustrie) erstmals in Deutschland auf den Markt gebracht. Eine Betrachtung zu Autor und Werk.

 

Die Geburt des »Neo-Polar«

Es ist Freitag, der 16. Juli. Über der Nationalstraße 86 im Département Languedoc-Roussillon steht die gleißende Sonne. Um 12:30 Uhr steuert ein gepanzerter Wagen auf den Ort Pont Saint-Esprit zu, begleitet von zwei Motorradpolizisten. Drei Männer, mit Frankensteinmasken getarnt, eröffnen das Feuer auf den Konvoi. Die beiden Polizisten und eine der Begleitpersonen sterben auf der Stelle. Der Fahrer ist schwer verletzt und wird mit einem Genickschuss exekutiert. In das Innere des Frachtraums fliegt eine Tränengasgranate und zwingt den letzten noch lebenden Wachmann ins Freie. Er wird von hinten in den Kopf geschossen. Insgesamt entkommen die Killer mit einer Beute von zweihundertfünfzig Kilo Gold.
Ihren Unterschlupf haben die Männer längst bezogen. Schon seit einigen Tagen hausen sie wenige Kilometer entfernt in einem verlassenen Weiler. Ein Ort, den die avantgardistische Künstlerin Luce als Sommerdomizil nutzt. Um ihre Langeweile zu vertreiben, lädt sie jedes Jahr eine handvoll Menschen in die Ruinen ein. In diesem Sommer sind neben den drei Gangstern der Anwalt Brisorgueil und der versoffene Schriftsteller Max Bernier zu Gast. Der Anwalt ist Komplize der Bande. Max und Luce hingegen haben keine Ahnung, was sich an diesem Morgen auf der Nationalstraße 86 abgespielt hat. Elf Zeugen haben den Überfall beobachtet, es fehlt jedoch jede Spur der drei Gangster. Die Polizei tappt im Dunkeln. Der Coup scheint gelungen. Die Delinquenten wollen den Sommer bei der verlebten Künstlerin verbringen, bis Gras über den Raubüberfall gewachsen ist, die Beute teilen und sich trennen. Doch am gleichen Mittag gerät der scheinbare Erfolg ins Wanken. Es tritt die junge Liebe und frisch gebackene Frau des Schreiberlings Max Bernier mit Kind und Kindermädchen auf den Plan. Melanie hat ihren Sohn aus erster Ehe entführt und will, ebenso wie die Gangster, die Abgeschiedenheit des Orts nutzen, um für einige Wochen unterzutauchen. Die zwei Frauen mit dem Jungen ziehen schnell die Aufmerksamkeit der örtlichen Polizei auf sich, und kurz darauf statten zwei Dorfgendarmen der verrückten Künstlerin und ihren Gästen einen Besuch ab. Eins führt zum anderen, und es kommt zu einem irrwitzigen Show-Down in den Ruinen des Weilers.