Kurzbiographie von Henning Blume

Henning Blume hat eine wissenschaftliche Arbeit: über den «Néo-Polar von Jean-Patrick Manchette» verfaßt und für uns nachstehende Kurzbiographie für die Homepage erstellt.

 

 

Geboren wird Jean-Patrick Manchette am 19. Dezember 1942 in Marseille, nach dem Ende der deutschen Besatzung zieht die Familie nach Malakoff im süd-östlichen Vorstadtgürtel von Paris, wo der junge Jean-Patrick die Grundschulzeit verbringt. Sein Vater ist mit den Jahren vom Facharbeiter zum „cadre commercial“ (kaufmännischen Angestellten) aufgestiegen, der im Rahmen seiner Verkaufstätigkeit von Radiologie-Geräten außer in Frankreich auch viel im osteuropäischen und nordafrikanischen Ausland reist. Über seinen Vater sagt Manchette später, dieser habe sich sein Leben lang von Chefs gängeln lassen, ein Bild, das in vielen der Charaktere seiner Polars auftauchen wird.

Seine Mutter faßt bereits früh den Plan, Jean-Patrick Manchette solle Lehrer werden; nur teilweise ist das später Realität geworden.

 

 

Lehr- und Studienjahre 

In seiner Gymnasialzeit, die er 1960 mit dem bestandenen „bac philo“ (Abitur mit Schwerpunkt Philosophie) beendet, beginnt die Lektüre von Science-Fiction-und Kriminalliteratur. Vor allem die „Série Noire“ des Verlages Gallimard hat es ihm zunächst angetan, in seinen Chroniques spricht Manchette von seiner Großmutter mütterlicherseits, einer gebürtigen Schottin, bei der er im Alter von acht oder neun Jahren auf die Bücher dieser Reihe gestoßen sei. Die ersten Kontakte mit Kriminalliteratur seien die Romane der Engländer Peter Cheyney und Hadley Chase gewesen, vor allem aber eine Szene bei Elliott Chaze sei ihm in Erinnerung geblieben, eine Szene, die er seine „scène primitive“, seine freudsche Urszene des Kriminalromans nennt:

„J’ai été très impressionné, à l’époque, par Il gèle en enfer d’Elliott Chaze : la nana à poil qui se vautre dans les billets de banque après le braquage, c’est très frappant pour un môme prébubertaire...“ (Chroniques, Seite 11)

Eine ähnliche Frau wird man später in seinem Roman Fatal (Fatale) treffen...

Die Studienzeit ist wohl die Zeit, die Jean-Patrick Manchette besonders prägt. Das Fach „lettres supérieures“, also ein Sprach- und Literaturstudium, soll ihn an die Eliteschule in Saint-Cloud, die Ecole Normale Supérieure führen. Die dafür notwendigen Aufnahme-Concours besteht er aber insgesamt dreimal nicht, wie er später sagt, zwei Mal unbeabsichtigt, einmal mit voller Absicht. Er beginnt danach ein Anglistikstudium an der Pariser Sorbonne, allerdings erlangt er weder den Abschluß der „licence“, noch die von seinen Eltern favorisierte Lehrberechtigung für das Schulfach Englisch in Frankreich, den „CAPES“.

Bereits 1961 lernt er seine zukünftige Frau Georgette Petcanas kennen. Die gebürtige Griechin studiert Filmwissenschaften, und am 30. Oktober 1962 bringt sie den gemeinsamen Sohn Jean Tristan zur Welt. Beide, Frau und Sohn Jean-Patrick Manchettes, spielen später wichtige Rollen im Zusammenhang seines Werkes: Seine Frau unter dem Namen Mélissa Manchette als Co-Übersetzerin englischsprachiger Romane, sein Sohn, dann unter dem Pseudonym Doug Headline, nach Jean-Patrick Manchettes Tod gemeinsam mit François Guérif als Herausgeber der Chroniques zum Kriminalroman, einer Sammlung verschiedener Texte Manchettes (Cache ta joie!), seiner gesammelten Beiträge zum Film (Les Yeux de la momie) und auch des posthum veröffentlichten Romans Blutprinzessin (La princesse du sang).

Nicht nur Frau und Kind bringen zu Beginn der 60er Jahre Bewegung in Jean-Patrick Manchettes Leben, die Lektüre der amerikanischen Krimis, von denen er völlig gesättigt gewesen sei, deren „realistisch-kritische Linie“ (Chroniques, Seite 12) überträgt sich auch in sein reales aktives Leben. Den algerischen Befreiungskampf, den heißen Vorlauf in Frankreich für den Mai 1968, erlebt er nach eigener Aussage als „militant gauchiste“ in Rouen. Ab 1962 engagiert er sich gleichzeitig als Mitglied in verschiedenen Organisationen: Bei der PSU (Sozialistische Partei), in der Union des étudiants communistes und in einer Untergrundgruppierung namens „La Voix communiste“, einem Sammelbecken für Trotzkisten und Anhänger der Kommunistischen Partei.

1964 geht Manchette nach England, um an einer Blindenschule als Lektor zu arbeiten. Der dortigen Verwaltung ist er aber (ihrem Eindruck nach ein Extrem-Linker, unverheiratet aber mit Kind), ein so gewaltiger Dorn im Auge, daß das Engagement bereits nach sechs Monaten endet: Jean-Patrick Manchette kehrt nach Frankreich zurück. Dort findet er die linken Organisationen aufgerieben, seine Mitstreiter zerstreut; den frei gewordenen Raum füllt er leicht, er stolpert über die Revue der Situationnisten, liest erneut die klassischen und sonstigen Marxisten, Marcuse.

Er heiratet Mélissa und beginnt als Autor für Kinofilme zu arbeiten. Das Ergebnis des zu jener Zeit intensiven Überdenkens seines bisherigen Lebensverlaufs beschreibt er in seinen Chroniques:

„J’ai complètement déconné, j’ai joué au cow-boy, j’ai joué au bolchevik, c’est quoi ce militantisme ? (...) Ce qui n’a pas empêché que je continue de m’intéresser au mouvement social, au contraire. Je n’arrête pas de lire les théoriciens et d’éplucher les journaux. Ça passe aussi dans mes polars, évidemment.“ (Chroniques, Seite 13)

Bis zum Erscheinen seines ersten „polar“ ist es aber noch ein weiter und beschwerlicher Weg.


 

Schreiben als Broterwerb

Die Filmproduzenten lehnen die eingereichten Drehbücher reihenweise ab, das Schreiben ist aber nicht vollkommen vergeudete Zeit, da das eine oder andere Exposé zu späterer Zeit Verwendung als Romanvorlage finden wird. Jean-Patrick Manchette nimmt verschiedene Arbeiten beim Film an, redigiert Exposés, bis er schließlich ab 1966 kleine Drehbücher an den Mann bringt und in der Folge auch größere Auftragsarbeiten verkauft – allerdings nur für semierotische Streifen.

Das Glück ist ihm hold, als sich Anfang 1968 die Möglichkeit auftut, in Gemeinschaftsarbeit mit zwei anderen Autoren die Drehbücher für eine Jugendserie des Fernsehens zu verfassen, Les Globe-Trotters, eine zum Geographielernen angelegte Abenteuerreihe. Mit Michel Lévine schreibt er im Anschluß daran auch noch die beiden „Globe-Trotter“-Romane.

Den Globe-Trotters folgen die Têtes brûlées: Neben zahlreichen weiteren Filmszenarien arbeitet Manchette wieder gemeinsam mit Michel Levine an den drei Abenteuerromanen für Jugendliche, die 1970 erscheinen. Ebenfalls in diesem Jahr erscheinen Les Chasses d’Aphrodite, ein erotischer Roman (unter dem Pseudonym Zeus de Castro in Zusammenarbeit verfaßt) und die romanartige Adaptation einer Tonbandabschrift Les Criminels de glace. Chasse aux nazis en Amérique du Sud auf der Basis von Erich Erdsteins Aufnahmen (auch unter dem Namen des Nazijägers veröffentlicht). Zur selben Zeit nimmt Manchette seine Tätigkeit als Übersetzer von Romanen aus dem Englischen auf. Von 1970 an bis zu seinem Tod übersetzt er, immer wieder auch in Zusammenarbeit mit seiner Frau, um die dreißig Romane von über zwanzig Autoren.

War das Übersetzen zunächst eine Notwendigkeit, um den Lebensunterhalt zu sichern, wird es nach und nach zu einer regelrechten Passion Manchettes. Die Arbeit mit Texten, mit Sprache, verbunden mit der Lektüre der wichtigen Werke der Situationnistes (Guy Debord, Raoul Vaneigem) und deren Zeitschrift Internationale Situationniste beeinflussen ihn in mehrerlei Hinsicht:

Das Interesse an gesellschaftlichen Abläufen intensiviert sich, sein kritischer Blick schärft sich durch die Beschäftigung mit Theorien, sein Schreibstil entwickelt sich durch ständiges Produzieren von Texten.

 

 

Die 70er Jahre – die Jahre des „néo-polar“

In den Jahren 1971 bis 1973 erscheinen die Polars Laissez bronzer les cadavres !, L’Affaire N’Gustro, O dingos, ô châteuax !, Nada und Morgue pleine.

Die Affaire wird zunächst vom Verlag Albin Michel abgelehnt, der bereits vor Laissez bronzer les cadavres! geschriebene Roman wird erst als zweiter Roman Jean-Patrick Manchettes in der Série Noire publiziert zu werden. Das Buch basiert auf dem realen Stoff der Entführung und Ermordung des marokkanischen Oppositionsführers Mehdi Ben Barka. Stil und Inhalt, deutliche Sozial- und Gesellschaftskritik machen Manchette zu dem Autor, der die etwas eingeschlafene Krimilandschaft Frankreichs neu erweckt und nachhaltig umgestaltet. 

Im Jahr 1973 erhält er für O dingos, ô châteaux ! den Grand prix de Littérature policière.

Mitte der 70er Jahre erreicht das Schaffen Manchettes seinen Höhepunkt, nicht nur durch die Herausgabe von Que d’os !, Fatale und Le Petit Bleu de la côte ouest zwischen 1974 und 1977: Er leitet ab 1975 die Science-Fiction-Kollektion Futurama bei Presses de la Cité, bringt 1977 den in Zusammenarbeit mit dem Zeichner Tardi entstandenen Comic Griffu heraus, und im Dezember des Jahres startet seine Rubrik „Polars“ in der Zeitschrift Charlie Mensuel (mit Unterbrechungen bis 1981). Diese und andere Texte Manchettes zum Polar werden von seinem Sohn gemeinsam mit François Guérif 1996, ein Jahr nach dem Tod des Autors, unter dem Titel Chroniques herausgegeben.

Für einige Monate ist Manchette im Frühjahr 1978 Chefredakteur der Comiczeitschrift BD, l’hebdo de la BD, im Oktober beginnt er eine Rubrik in der Zeitschrift Métal hurlant (bis 1980). Im folgenden Jahr veröffentlicht er mit Mélanie White einen Science-Fiction-Roman für Jugendliche und schreibt das Theaterstück Cache ta joie! ou le théâtre provoque par le rock für das Théâtre de la Comédie de Saint-Etienne. Die Leser von Charlie Hebdo fesselt Manchette mit seiner neuen Rubrik zum Thema Film ebenso wie mit der zum Polar. Auch hier ist seine Begeisterung für das Sujet deutlich spürbar. Les Yeux de la momie. Chronique de cinéma ist sowohl der Titel dieser Rubrik als auch des 1997 erscheinenden Buches, das alle Texte des cinephilen Manchette vereint.

Seine Tätigkeit als Romanübersetzer setzt Jean-Patrick Manchette währenddessen kontinuierlich fort und arbeitet darüber hinaus an Adaptationen und Dialogtexten für verschiedene Filme.

 

 

Die 1980er und 1990er Jahre

Nach La position du tireur couché (als Feuilleton bereits ab 1980 in der Zeitschrift Hara-Kiri erschienen, in Buchform 1982) beginnt das sogenannte „große Schweigen“ Manchettes. In den Anmerkungen zum Roman Blutprinzessin (La pricesse du sang) weist Doug Headline aber darauf hin, daß diese Phase ohne veröffentlichte Produktionen seines Vaters keineswegs eine ohne Arbeit gewesen sei. Manchette selbst sagt über die 80er Jahre, er habe den Eindruck, mit seinem Tireur an einem Punkt in Schreiben und Geschichte angekommen zu sein, an dem sich seine literarische Ausdrucksform, der „néo-polar“, ebenso wie die Sicht- und Lebensweise der Menschen so verändert hätten, daß ein Fortsetzen der Polar-Produktion nur Wiederholungen und Imitationen bereits existierender Werke hervorbringen könne. 

Manchette sieht für sich die Notwendigkeit der Neuorientierung, beginnt 1987 mit Iris einen Roman, von dem leider nur Auszüge in der Sonderausgabe Spécial Manchette der Zeitschrift „Polar“ 1997 erscheinen, und 1989 die Princesse, das Werk, das den Beginn eines Romanzyklus konstituieren soll. Dieser sollte nicht mehr wie die „néo-polars“ der 70er Jahre auf die französische Gegenwartsrealität zugeschnitten und beschränkt sein, sondern verschiedene Zeiten und Gesellschaften unter dem Titel Les Gens du Mauvais Temps (Die Menschen in schweren Zeiten) abbilden.

Trotz seiner Krebserkrankung reist Manchette, als es sein Gesundheitszustand erlaubt, 1991 mit seiner Frau nach Kuba, um dort vor Ort für die Princesse zu recherchieren.

1993 gründet er gemeinsam mit Freunden die Bewegung „Banana“, deren vordringlichstes Ziel und eigentlich einzige Aufgabe ist, bei Demonstrationen den Beamten der CRS (der französischen Bereitschaftspolizei), Bananenschalen vor die Füße zu werfen.  

Am 3. Juni 1995 stirbt Jean-Patrick Manchette im Alter von 52 Jahren an Lungenkrebs.

 

Nahezu alle Zeitungen Frankreichs drucken nach seinem Tod durchweg positive Nachrufe auf den großen Autor des „néo-polar“, auch jene aus dem rechts-konservativen Lager, der politischen Richtung, deren erklärter Gegner Jean-Patrick Manchette zu Lebzeiten war.