Peter Henning: Im Wendekreis des Noir

Über die Unterwelten des französischen Krimiautors Jean-Patrick Manchette

Die Romane des gerade mal 52-jährig verstorbenen französischen Krimiautors Jean-Patrick Manchette funktionieren so, als legte jemand in einem Keller einen Lichtschalter um. Mit einem Mal zeigt das Dunkle im Menschen sein Gesicht: fratzenhaft und bedrohlich, von Neurosen, Gier und Größenwahn entstellt. Manchette, 1942 in Marseille geboren, liebte das Kino ebenso wie die Literatur. Er arbeitete lange als Drehbuchautor. Seine sozialkritischen Romane, deren Rechte zur Verfilmung Alain Delon später in einigen Fällen erwarb, hat dies stark beeinflußt. Manchette, der sich rasch zur Leitfigur einer neuen Generation französischer Krimischreiber wie etwa Jean-Bernard Pouy entwickelte, setzte von Beginn an auf ein betont filmisches Erzählen, das mit harten Schnitten, Totalen und langen Kamerafahrten arbeitete. Das Resultat sind tiefenscharfe Nahaufnahmen in zumeist heikle Geschichten Verstrickter.

«Gute Romane werden von Leuten geschrieben, die keine Angst haben», schrieb George Orwell in seinem großen Essay «Im Innern des Wals» über Henry Miller. Manchette war einer jener Furchtlosen, dessen Romane unter Kennern inzwischen einen geradezu mythischen Ruf besitzen. Ein Rebell seiner Zunft, der dort die Wahrheit aussprach, wo andere sich in beredtes Schweigen hüllten. Manchette ging es in seinen nahezu allesamt verfilmten Büchern nie alleine um Kriminalfälle, sondern vor allem um Menschen und die Desaster, in die sie taumeln. Um Schuld und Sühne. Das Resultat ist eine illusionslos realistische, das heißt menschliche, mitleidende und grausame Literatur. Zudem demonstrierte Manchette eindrucksvoll, welch aufklärerische Kraft sogenannte Trivialliteratur besitzen kann. In zehn makellosen, zuletzt längere Zeit vergriffenen und nun nach und nach wieder aufgelegten Romanen hat Manchette der Fratze Mensch ins Auge geblickt, hat sich bis auf Porentiefe an sie heran gezoomt. [Seit] Anfang der Siebzigerjahre hat er mit Büchern wie «Fatal», «Die Blutprinzessin», «Volles Leichenhaus» oder dem von Claude Chabrol verfilmten «Nada» wie nebenbei ein ganzes Genre revolutioniert.

Indem er bewußt an die Tradition Chandlers und Hammetts anknüpfte und doch darüber hinaus wies, begründete er eine moderne, auf Europa zugeschnittene Variante des amerikanischen Hard-boiled-Krimis: den sogenannten «Neo-Polar» ― eine Form neuerer sozialkritischer Literatur, deren Wesen Manchette für sich selbst einmal so beschrieb: «Ich schreibe diese Polars, um meine Stoffe loszuwerden, um ihnen eine Form zu geben. Doch dabei geht es mir nie darum, große Literatur zu schaffen. Ich habe einfach Lust, leicht konsumierbare Sachen zu schreiben, die man liest und anschließend wegwirft.» Pulp made in France!

Manchette ist der große Aufräumer unter den französischen Erzählern. Unter seinen Sätzen und Blicken zerfallen alle vermeintlichen Wahrheiten einer im Kern verelendeten und zum Schutze ihrer selbst bisweilen zum Äußerten entschlossenen Gesellschaft. Stoff für passionierte Misanthropen? Nicht nur, denn Manchettes polarkalte, mal an den Psycho-Berserker JimThompson, mal an die Arbeiten des literarischen Bebopers David Goodis erinnernden Romane liefern abgezirkelte Geschichten, die wie von allein im Hirn abrollen: Kopf-Kino, aus der Sprache gezaubert ― hypnotisch und so cool wie die Stücke von Miles Davis. Zudem beherrscht Manchette meisterhaft das, was der literarische Hohepriester des Junk, der amerikanische Waffennarr William S. Burroughs, einmal den «Set» nannte: ein untrügliches Gespür für Atmosphäre, Licht und Schatten, dazu ein szenisches Fingerspitzengefühl, das seinen Schilderungen eine Plastizität und Tiefenschärfe verleiht, die nah ans Visuelle reicht. Dies belegt neben den jüngst auf deutsch erschienenen Romanen «Westküstenblues» und «Tödliche Luftschlösser» allen voran .«Fatal» aus dem Jahr 1977 (dt. 2001), der wie ein führungslos gewordener Nachtzug durch die Phantasie des Lesers rast.

Erzählt wird die kleine, schmutzige Geschichte eines gezielten Amoklaufs: wie in Trance tingelt die junge, seelisch ausgekühlte Aimée durch die französische Provinz und zieht eine breite Blutspur hinter sich her. Raffiniert erschleicht sie sich das Vertrauen wechselnder selbstgefälliger Honoratioren, um deren dunkle Geheimnisse auszuspionieren. Bis sich der Schalter in ihrem Kopf umlegt und der finale Akt einer Oper des Schreckens anhebt. Denn Aimée mordet aus kalter Leidenschaft: jeder Mord ein wollüstiger Hieb in das von Heuchelei, Korruption und Betrug verzerrte Antlitz der Provinz; jedes neuerliche Blutbad ein weiterer Meilenstein auf ihrem Weg zum Thron der Königin der Nacht. «Sie war zierlich, trug einen langen Wachstuchmantel und einen runden Regenhut auf dem langen braunen Haar. Über ihre Schulter hing eine 16er Flinte.»

Immer ist es Nacht in Manchettes sargschwarzen Endspielen ― und immer ist es sprichwörtlich fünf vor zwölf, wenn er seine literarischen Räuberschachpartien eröffnet. Manchette, der in all seinen Romanen überaus geschickt mit Versatzstücken aus Jazz, Kino und Literatur operiert, stellt diesen regelmäßig Bilder des französischen Alltags gegenüber; Bilder voller Outcast-Spott und beißender Sozialkritik. So läßt er den Protagonisten Georges Gerfaut in seinem 1983 auf deutsch erschienenen und erfolgreich mit Alain Delon verfilmten Roman «Killer stellen sich nicht vor» spöttisch raunen, nachdem dieser mit knapper Not dem Tod entkommen ist und keine Lust auf Tiefschürfendes mehr hat: «Ich bin aus einem Zug gefallen. Ich bin Landstreicher, wissen Sie? Ein Vagabund, einer der umher zieht, ein Trippelbruder eben!»

Entgegen dem von Thomas Narcejac und Pierre Boileau begründeten «roman à suspense», der seinen Platz bis dato zwischen dem klassischen Detektivroman und dem «Roman Noir» eines Jean Amila inne hatte, schlagen die Autoren des «Neo-Polar» einen neuen Ton an. In einem Brückenschlag von Edgar Allen Poe über Emilie Gaboriau, den Begründer des französischen «Roman policier» über Maurice Leblancs «Arsene Lupin» bis hin zu Simenons Art der Wirklichkeitsdarstellung im Hinblick auf die gesellschaftliche Schicht oder Marcel Duhamels Idee einer auf französische Verhältnisse zugeschnittenen «Serie noir» mit «hohem Actiongehalt», überführen Manchette, Jean Vautrin oder Pierre Siniac den «Roman noir» in den «Neo-Polar». Der Ton wird härter und ungemütlicher, die Form der Erzählung knapper. Das Credo tautet: Reduktion, Verdichtung.

Begriffen die Autoren des «Roman Noir» diesen noch als Plattform für explizite Gesellschaftskritik, so werden in den Romanen Manchettes Zustände weder angeprangert noch moralisch untersucht. Verbrechen werden nicht mehr aufgeklärt, sondern bloß noch als Somatiken einer kranken gesellschaftlichen Psyche geschildert. Gleichzeitig führt Manchette Ideologie in den Kriminalroman ein. In diesem Sinne lesen sich alle seine «Neo-Polars» als gesellschaftskritisch: die Entfremdung des Einzelnen und seine emotionale Unterkühlung erscheinen unabänderlich. Zugleich konzentriert er sich auf reine Äußerlichkeit: Gegenstände, die Bekleidung der Figuren, die Atmosphäre und vor altem die benutzten Waffen beschreibt er geradezu detailversessen; das Innenleben der Personen dagegen wird bewußt ausgespart. Manchette offenbart die Diktatur der Objekte und er tut es radikal. Seine Sprache bleibt stets neutral und präzise, was das unverwechselbare Klima der Kälte und der Apathie erzeugt. So auch und vor allem im Fall seines letzten, zu Lebzeiten nicht mehr fertig gestellten und 2001 auf deutsch erschienenen Romans, an welchem er bis zu seinem Krebstod im Jahr 1995 gearbeitet hatte: «Blutprinzessin» erzählt auf der Folie des klassischen Spionageromans à la Le Carrré die verwinkelte Geschichte einer Kindesent-führung und ihrer bis in die obersten Etagen der internationalen Spionage reichenden Folgen. Wie ein Kugelblitz entlädt der Roman seine Anliegen und Motive nach allen Seiten. Manchette hatte einen mehrere Bände umfassenden Zyklus vor Augen, der den Titel «Les Gens du mauvais Temps» tragen sollte. In einem Interview erklärte er dazu: «Ein guter Roman noir ist ein sozialer Roman, ein gesellschaftskritischer Roman, der zwar Geschichten von Verbrechen erzählt, der aber zugleich versucht, die Gesellschaft ― oder einen Teil der Gesellschaft ― an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt abzubilden. Von meinem Standpunkt aus war dies ein genau umrissener Zeitpunkt, nämlich der nach 68, und auch wenn meine Schmöker immer in Frankreich spielen, gehören sie in eine Zeit, in der die Wiederauflage von 68 weiterhin möglich zu sein scheint. Diese Möglichkeit erlischt gegen Ende der Siebzigerjahre.»

Manchette, der in seinem Roman in die späten Fünfzigerjahre zurückblendet, betritt mit der «Blutprinzession» nach einer Phase intensivster Zweifel und Überlegungen in mehrerer Hinsicht Neuland: zum einen verlegt er die Handlung erstmals ins Ausland, nach Kuba, in die Zeit des Castro-Aufstands. Zum anderen zeigt er sich durch die Lektüre der Spionageromane Le Carrés und Westlakes «Kahava» inspiriert: eng vernetzt wirft der Roman seine Schlingen aus, wechselt in Form harter Schnitte rasant die Erzähl-Ebenen.

Manchette sieht sich am Endpunkt einer mehr als zwanzigjährigen Entwicklung als Autor wie als Noir-Theoretiker angekommen. Er glaubt, einen Weg der Erneuerung gefunden zu haben, der Altes wieder aufgreift, um es ehrzählerisch in eine andere Form zu überführen: «Im Grunde genommen bin ich in meine alten Fußstapfen getreten und zu meinen Jahren des Schreibens, aber auch zu allen vergangenen Jahren überhaupt zurückgekehrt. Ich bin bis in das Jahr 1956 zurück gegangen, ein historisches Datum: Budapest, der Algerienkrieg.»

Er knüpft an das Konzept eines Ende der Siebzigerjahre verfaßten Drehbuchs an und fliegt 1991 zu Recherchezwecken mit seiner Frau nach Kuba. Er sieht die Möglichkeit, nach einer langen Phase des inneren Umbruchs und der Stagnation in die Literaturszene zurückzukehren ― knapp zehn Jahre nach Erscheinen seines vielleicht besten, und 2003 auch auf deutsch erschienene Romans «La Position du Tireur Couché» von 1982.

«Blutprinzessin» markiert einen letzten finsteren Höhepunkt im Werk des Patrick Manchette und einen Höhepunkt innerhalb des Noir-Genres überhaupt. Entwickelt wird die Geschichte der auf Kriegsschauplätzen erprobten Photographin Ivy Pearl, die als Handlangerin des französischen und des amerikanischen Geheimdienstes unwissentlich an der Liquidierung des international tätigen Waffenhändlers Aaron Black beteiligt ist. Was als undurchsichtige Chronik einer Entführung anrollt, verdichtet sich zuletzt zu einem kubanischen Endspiel: Amoral ist eine Grundkonstante im Spiel der Mächte und der Einzelne besitzt nur solange seinen Wert , wie er den wechselseitigen Interessen der Drahtzieher von Nutzen ist ― kurz: Neo-Polar in Reinkultur. «Wenn ich von Neo-Potar sprach», hat Manchette den Begriff einmal erläutert, «dann wußten die Journalisten nicht, daß das Wort auf einem Modell von Wörtern wie Neu-Brot, Neu-Wein oder Neu-Präsident beruhte, über die die extremistische Gesellschaftskritik die Substitute bezeichnet, die überall die ursprünglichen Sachen ersetzt haben.»

Manchette, bereits stark von seiner Krebserkrankung gezeichnet, hatte endgültig seine Form gefunden, der Lüge, dem Terror und der Angst, der Korruption, der Gleichgültigkeit und der Niedertracht zu trotzen.

«Man kann eben keine Hacksteaks machen, ohne zuvor ein bißchen Fleisch durch den Wolf zu drehen», heißt es bei Carroll John Daly, einem Veteran der amerikanischen Hard-boiled-fiction; Manchette wußte, daß es nicht selten das eigene Fleisch ist, das dabei mit durch den Wolf geht.

Seine Bücher sind Bücher über die Risse, die durch uns alle gehen. Der Leser seiner Romane atmet bis zur letzten Seite die gleiche Luft aus Traum, Entsetzen, Erkenntnis und Mut wie bei Hawthorne, Kafka oder Poe. Und mit Schrecken wird er feststellen, daß eine Welt vorgestellt wird, die immer und überall ist, wo Menschen sind.

Peter Henning in DEUTSCH MAGAZINE